Christian Vatter and Stefan Baumann, publishd in Planung & Analyse, 2005
Wie kommt man an tieferliegende Insights, wenn Konsumenten oft selbst nicht wissen, was sie treibt? Und wie lassen sich Markenbeziehungen erforschen, messen und vergleichen? Wir haben ein Verfahren entwickelt, das mit Hilfe von Familienaufstellung mittels Playmobilfiguren und Story Listening ein Abbild der inneren Realität und des Beziehungsgeflechts bei Konsumentscheidungen zu Tage fördert. Dies führt zu einem Verständnis der Rolle, die Marken und Produkte für Konsumenten spielen. Das Verfahren kann für Kommunikation, Produktentwicklung und Positionierung eingesetzt werden.
Der Konsument denkt nicht was er sagt, sagt nicht was er fühlt und fühlt nicht so wie er sich verhält. Und das ist noch nicht einmal böse Absicht sondern einfach ein internes Kommunikationsdilemma: Wir verstehen uns selbst nicht. Wir kommen an die wirklichen Entscheidungsschichten unseres tatsächlichen Handelns gar nicht heran: Meist ist es eine Melange an situativen, kognitiven und emotionalen Reizen, die sich gegenseitig befeuern bis sich irgendwann ein Verhalten abzeichnet. Kein normaler Konsument kann reflektieren, wie es zu diesem Verhalten kam. Marktforschung versucht aber immer, wieder Konsum und Markenverhalten zu analysieren und zu prognostizieren, indem sie seziert. Sie seziert die leblosen Einzelteile wie Imagebilder, Produktvorteile, Verkaufstreiber und Markenattribute ohne Bezug zum Handlungskontext und zum Ganzen. Und genau an dieser Stelle verliert sie den Bezug zu dem, was den Konsumenten wirklich bewegt. Denn echte Charaktere und lebendige Marken tun Dinge und sind somit Verben und keine Attribute. Unser Konsumverhalten ist nicht ein Stückwerk aus Einzelteilen, sondern ein komplexes Erfahrungs-Theater: Menschen und Marken verändern sich, lösen Konflikte, wachsen und halten so ihre Zuschauerschaft in Atem. Es geht letztlich um Beziehungen zwischen Menschen und den aktiven Marken am Markt und darum, diese Markenbeziehungen zu erforschen.
Wie aber lassen sich diese komplexen, sich verändernden Systeme erfassen? Unsere Ansicht: Den postmodernen Konsum kann man nur verstehen, wenn man ihn systemisch und handlungsorientiert betrachtet. Mit systemisch meinen wir die ganzheitliche Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen den handlungssteuernden Variablen, das heißt, die motivationalen Konfigurationen in relevanten Marken-Situationen nachzustellen und damit im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen.
Handlungsorientiert wiederum meint das Ansetzen auf der Verhaltensebene. Statt statischer Verbalaussagen interessieren uns vornehmlich Handlungsimpulse, die meist als die Summe der vorausgegangenen „inneren Verhandlungen“ gelten können. Beobachtet man nun Handlungen, und sei es auch nur im Spiel mit Figuren, sind die gewonnen Erkenntnisse näher am echten Verhalten als das reine Abfragen von Einstellungen. Den Plot hinter diesem Verhaltensgeflecht zu erkennen ist der erste Schritt postmodernen Forschens. Der zweite Erkenntnisschritt besteht darin, „Rollen“ zu identifizieren, die Marken, Produkte oder Services für den Konsumenten „spielen“. Die wahre Kraft und der Kern einer Marke lassen sich nur aus der Interaktion mit der Marke erschließen. Diese Interaktion „aufführen“ und „erzählen“ zu lassen ist unsere Methode der Wahl.
Bei Sturm und Drang haben wir eine Methodik entwickelt, um eine solche Rollenanalyse von Markenprodukten durchzuführen und damit die Kommunikation oder die Produktentwicklung zu steuern und zu inspirieren. Abgeleitet aus einem Verfahren der Psychotherapie haben wir die diagnostische Stärke des Geschichtenerzählens mit der intuitiven spielerischen Darstellung von Handlungen verbunden. Dabei handelt es sich um eine Synthese aus Psychodrama und Story Listening. Wie kann man damit arbeiten?
„Jeder Mensch lebt in einer Welt, die ihm völlig privat und persönlich vorkommt. Aber die Millionen privater Welten überlappen sich in großen Bereichen. Den größten überlappenden Anteil bilden die rein kollektiven Elemente. Nur die wenigsten Anteile sind privat und persönlich“ (Jacob L. Moreno, 1982)
Das Psychodrama ist ein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Wiener Psychiater, Arzt und Philosoph Jacob Levy Moreno entwickeltes Verfahren zur handelnden Darstellung (griechisch Drama = Handlung) des inneren Erlebens. Will man menschliches Handeln verstehen und verändern, muss man neben dem beobachtbaren Verhalten auch Motive, Ziele und andere verhaltenssteuernde „innere Zustände“ berücksichtigen. Diese inneren Zustände bezeichnet Moreno als Surplus Realität und meint damit „die subjektive Realität, die ‚innere Welt’ des Protagonisten. Psychodrama ist handelndes Erleben der eigenen subjektiven Wirklichkeit“.
Die Protagonisten innerhalb eines Psychodramas bringen eine Szene ihrer inneren Wirklichkeit zur Aufführung. Die Szene entsteht und formt sich aus beim „Spielen“ und ist ein Produkt der verschiedenen, wirkenden Kräfte im Inneren. Eine Surplus Realität in diesem Sinne lässt sich nicht abfragen, weil sie dem Probanden nicht bewusst ist. Erst in der Darstellung offenbart sich sein Innenleben für ihn selbst.
Psychodrama ist also das szenische Umsetzen von Erfahrungen, Emotionen und Beziehungen in ein materielles Bühnenarrangement mit Hilfe dramaturgischer Mittel wie Bühne, Requisiten und Spielfiguren. Die Probanden sind Schöpfer, Regisseure und Akteure des eigenen Stückes. Gegenüber anderen Simulationsmethoden zeichnet sich das Psychodrama durch eine im Spiel erzeugte Realitätssnähe aus. Im Psychodrama soll kein „Nachspielen“ sondern ein Wiedererleben der betreffenden Situation stattfinden. Auf der anderen Seite ermöglicht das Psychodrama auch über die Realität Hinausreichendes (z.B. das schlechte Gewissen) in der Surplus Realität der Spielsituation durch Spieler oder Requisite real werden zu lassen.
Mit Hilfe soziometrischer Techniken wie Soziogrammen, Gruppenskulpturen und symbolischen Bildern lassen sich Charakter und Intensität von Beziehungen bestimmen, eingestandene oder uneingestandene Anziehung, Distanz und Dominanz treten hervor. Dieser Aspekt macht dieses sowohl tiefenpsychologische als auch sozialpsychologische Verfahren wichtig für den Einsatz in der Marktforschung.
Das Psychodrama wird von einigen Marktforschungsinstituten angewandt, um Defizite der Befragung auszugleichen. Dabei wird es oft „klassisch“ eingesetzt, d.h. eine Gruppe von acht bis zehn Konsumenten spielt über einen Tag lang zum Teil vorgegebene Situationen, um Verbraucherverhalten, Motive, oder die Funktionsweise von Produkten zu ergründen. Morenos Techniken wie Rollentausch, Spiegeln oder Doppeln kommen hier zum Einsatz.
Im Unterschied hierzu verwendet das Verfahren von Sturm und Drang (Playmobil-) Spielfiguren. Die Vorteile sind, dass im Gegensatz zu szenischen Inszenierungen mit den Personen selbst Vorführhemmungen umgangen werden und persönliche Präferenzen zu Gruppenmitgliedern keine Rolle spielen, so dass eine gewisse Objektivierung entsteht. Zusätzlich wirkt sich die Einfachheit des Verfahrens förderlich auf Motivation und Involvement aus und erhöht die Bereitschaft, sich in das Verfahren einzubringen.
Mit den Spielfiguren lassen sich alle erdenklichen Szenen von Konsumepisoden darstellen. Mal sind die Spielfiguren projektive Vertreter, beispielsweise von Kaffeemarken, mal sind sie Stellvertreter für die Beteiligten in einer typischen Konsumsituation (z.B. wie sieht die „typische Bacardi Situation“ aus?). Mal stehen die Spielfiguren aber auch für Abstraktes wie „Das Dicke“ oder „die Sehnsucht“
Um Markenbeziehungen erforschen zu können, wird bei der Markenaufstellung mit Hilfe der Figuren ein statisches szenisches Bild („Gruppenskulptur“) aufgestellt. Dabei dienen die Figuren als Platzhalter für Marken- oder Produktcharaktere. Die Charaktere werden von den Teilnehmern erst gemeinsam definiert und anschließend zueinander platziert. Aus den sich daraus ergebenden Gruppierungen und Formationen lassen sich die damit implizierten Beziehungen der Marken oder Produkte untereinander feststellen. Ebenso kann ein Platzhalter des Konsumenten von den Teilnehmern mit in die Konstellation eingebracht werden (Prinzip: „Soziales Atom“), um Erkenntnisse über die Konsument–Markenbindung zu erhalten.
Über psychodramatische Techniken entwickeln wir die Situation entlang der Figuren. Die maximal fünf Teilnehmer eines solchen Psychodrama Workshops übernehmen wechselseitig Protagonisten-Rollen und stellen bestimmte Szenen auf. Der moderierende Leiter übersetzt über Fragen und Arrangements die innere Realität des Konsumenten in das Figurenspiel. Solche protagonistenorientierte Szenenspiele werden mit einem „Sharing“ abgeschlossen, bei dem die übrigen Teilnehmer ihre durch die Szene angeregten ähnlichen Erfahrungen und Emotionen schildern. Das Drama ist also auch immer ein Weg, den Kontakt zu den verborgenen Konsumerfahrungen anderer zu öffnen.
Neben dem flexiblen Arbeiten mit den Playmobil-Spielfiguren ist eine weitere Besonderheit unseres Ansatzes die Einbettung des Psychodramas in eine Technik, die sich Story Listening nennt. Wer Geschichten gut genug zuhört, erhält Aufschlüsse über die Zusammenhänge von Verhalten und Situation. Zusammen mit dem dramatischen Spiel, ergibt sich ein potentes, systemisches und handlungsorientiertes Instrument.
„Surveys and focus groups can take you only so far. If you hope to understand what drives consumer behavior, search out the true-life anecdotes that reveal what your customers really want“ (Ronald B. Leiber, 1997)
Marken sind ebenso wie Unternehmen ein Strom von Episoden. Die Verdichtung dieser Episoden macht den Kern einer Marke aus. Aus den Geschichten, die rund um eine Marke erzählt werden oder die man selber erlebt hat, bilden sich kollektive Mythen. Diese Mythen beschreiben meist sehr genau, welche Rolle eine Marke im Erfahrungshaushalt eines Konsumenten einnimmt und überhaupt einnehmen kann. Um an den Geschichtenpool einer Marke zu kommen interessieren uns sowohl reale Markengeschichten als auch fiktionale Markengeschichten.
Geschichten transportieren komplexe Inhalte und Fakten in einfacher, in eine Handlung eingebettete Form. Sie lassen Zusammenhänge und Beweggründe, Ziele und Bedürfnisse deutlich werden. Beispielsweise helfen Mythen, Sagen und Märchen, sich in einer unberechenbaren Welt zu orientieren, erklärten Gut und Böse und enthalten Anleitungen für richtiges Handeln.
Geschichten wurden in der Psychologie schon früh als diagnostisches Instrument eingesetzt. Der amerikanische Psychologe Henry Murray entwickelte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Thematischen Apperzeptionstest. Aus spontan erfundenen Geschichten zu mehrdeutigen Bildern gewann er eine Innensicht seiner Patienten und extrahierte Themen, die diese aktuell beschäftigten. Er nutzte Inhalte, Situationen und Personen der Geschichten, und zog daraus Rückschlüsse auf persönliche Motive, Bedürfnisse, Einstellungen und Konflikte. Er konzentrierte sich auf die den Protagonisten in seinem Handeln beeinflussenden Bedürfnisse, Gefühle und Wünsche („needs“) sowie die auf ihn einwirkenden Umwelteinflüsse („presses“).
Geschichten werden allerdings erst lebendig, wenn es zu einem Zusammenspiel von Charakteren kommt. Die Protagonisten agieren miteinander, stehen in Dialog und Beziehung zueinander. Gerade die Analyse dieses Zusammenspiels birgt einen reichen Schatz an Erkenntnissen.
In der Dramaturgie unserer „Laiendarsteller“ tritt das Wesen der Charaktere deutlich hervor, die Rolle, die Marken, Produkte oder Services spielen, lassen sich beobachten. Für eine Krankenkasse, die sich bekanntermaßen auch immer mehr als Marken verstehen müssen, haben wir uns von den Konsumenten fiktive Markengeschichten schreiben und erzählen lassen. Einzige Vorgabe: Diese Geschichten sollten die betreffende Marke als Protagonisten vorsehen. Ansonsten ist alles der Phantasie der Konsumenten überlassen, die in Wahrheit aus der inneren Realität gelenkt und komponiert wird. Die entwickelten Geschichten geben uns Auskunft über die zugeschriebene Rolle einer Marke für den Konsumenten.
Dabei analysieren wir die eingebauten Charaktere, den Plot, den zentralen Konflikt und die zentrale Botschaft der Geschichte. Mit einer internen Analyse-Schablone legen wir die unterschiedlichen Geschichten übereinander und suchen nach gemeinsamen Nennern. Gibt es eine implizite „Core Story“ und eine „Core Message“, die sich die Konsumenten über die Marke erzählen? Und was sagt diese Geschichte über die Rolle der Marke aus?
Aus den bisherigen Analysen heraus konnten wir ein Set an archetypischen Rollen identifizieren, die immer wieder von Marken eingenommen werden bzw. von Konsumenten den Marken zugewiesen werden, die an dieser Stelle aber nicht vertieft werden können. Aus der Definition und Ausformulierung dieser Rolle ergeben sich ziemlich klare Vorstellungen darüber, wie diese Marke auftreten muss, wie sie spricht, wie sie aussieht und natürlich wie sie sich verhält. Damit erweist sich das Story Listening als eine sehr intuitive und pragmatische Methode, um über Kommunikation auf dieser Geschichte leicht aufzusetzen und sie kreativ weiter zu schreiben, also den Übergang ins Story Telling zu vollziehen.
Wie aber kommen Psychodrama und Story Listening nun in einem Untersuchungsansatz zusammen? Durch gespielte Marken-Geschichten. In einem eintägigen „Markentheaterstück“ kombinieren wir die beiden Methoden. Den Einstieg bilden meist real erlebte Geschichten und Begebenheiten. Spannend ist es, zu hören, welche Aspekte aus dem Kontakt mit der Marke erinnert werden, welche Erfahrungen „merk“-würdig waren, also welche Szenen besonders prägnant für das Marken- oder Produktbild sind.
Diese Szenen werden dann – wie oben beschrieben – psychodramatisch im Markentheater über die Spielfiguren aufgestellt und in die Tiefe weiterentwickelt. Dadurch besteht die einzigartige Möglichkeit, die Erzählebene mit der Verhaltensebene zusammen zu bringen und dabei erstaunliche Erkenntnisse zu sammeln über das Beziehungsverhältnis zwischen Konsument und Marke. In den meisten „Markentheatern“ widmen wir uns zunächst den Produktgeschichten, um überraschende Insights über die Kategorie zu analysieren. Jeder der Probanden hat die Möglichkeit eine Szene bzw. ein Thema seines zentralen Produktscripts aufzustellen. In der Anleitung des agierenden Konsumenten wird die Szene aus der Surplus Realität heraus entwickelt. Die Figuren bewegen sich, sprechen zueinander, tauschen Rollen, benutzen Requisiten. Der alleinige Regisseur der Szene ist der Konsument. Er spricht und bewegt alle Figuren selbst und kommuniziert dadurch ständig mit sich selbst. Damit gelingt es, eine viel tiefere Motivströmung zu erreichen. Der Rest der Gruppe hat im Anschluss daran immer die Möglichkeit eines „Sharings“. Dabei werden ähnliche Erfahrungen und damit zusammenhängende Emotionen ausgetauscht. Nach dem Produktpart gehen wir über zur Markenebene und bringen auch hier die relevanten Geschichten auf die Bühne. Dieser grobe Ablauf wird je nach Aufgabenstellung durch projektive und imaginative Übungen angereichert. Zum Beispiel ist es möglich in einer Initialübung eine Collage zu der vorgestellten Geschichtsszene anfertigen zu lassen, die dann als Bühnenbild fungiert und damit noch mehr innere Realität abbildet.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mit der Script Analyse im Markentheater die Surplus Realität des Konsumenten sichtbar wird. Insbesondere lassen sich so Markenbeziehungen erforschen. Dabei erfahrbare innere Konflikte und Spannungen liefern uns tiefe tatsächliche Insights, um neue Produkte zu erfinden, Marken in ihrem Rollenverständnis zu verstehen und natürlich auch um bessere Positionierungen für die Kommunikation zu finden.